Ehemalige Klosterkirche - heutige Pfarrkirche St. Quirinus, © Isabelle Munstermann

Ehemalige Klosterkirche - heutige Pfarrkirche St. Quirinus

Das Auftreten des Antichrist gehört zu den biblisch begründeten Vorstellungen vom Ende der Welt. Der Antichrist ist eine Personifikation des gegen Christus gerichteten Bösen. Durch falsche Wunder gibt sich der Antichristus als Jesus Christus aus, um die Menschen zu täuschen und für sich einzunehmen. Am Ende wird der falsche Christus jedoch durch Gott entmachtet.

Das Spiel vom Antichrist, welches in der Gelehrtensprache Latein Ludus de Antichristo heißt, entstand vermutlich um 1160 im Kloster Tegernsee. Darin geht es um die Inszenierung der kaiserlichen Herrschaft mit zahlreichen Anspielungen auf die staufische Reichsideologie und ein paralleles Antichristdrama, das durch ein göttliches Strafgericht beendet wird.

Im Kloster Tegernsee entstand somit eines der originellsten mittelalterlichen Dramen überhaupt. Das Spiel vom Antichrist oder Ludus de Antichristo wurde wie die meisten Dramen des hohen Mittelalters im Kirchenraum und nicht im Freien aufgeführt.

Worum geht es? In diesem pathetischen Drama stehen sich Gut und Böse gegenüber. Der lateinische Text wurde gesungen, begleitet von pantomimischer Handlung, damit auch Menschen ohne Lateinkenntnisse im Publikum dem Geschehen folgen konnten.

Die Handlung des Spiels ist zweiteilig:

Zunächst geht es um die Erringung der Weltherrschaft durch den deutschen Kaiser. Dies ist im 12. Jahrhundert ganz klar auf die Dynastie der Staufer gemünzt. Unter feierlicher Musik ziehen am Beginn des Dramas der König von Babylon, die Könige von Jerusalem, Frankreich und Griechenland sowie der römisch-deutsche Kaiser ein. Dem Zug folgen ebenso als allegorische Figuren Synagoga (für das Judentum), Ecclesia (für die christliche Kirche) und Gentilitas (für die Heiden, die im 12. Jahrhundert aber für die in den Kreuzzügen unter anderem durch Friedrich Barbarossa bekämpften Muslime stehen). Im Folgenden erlangt der (staufische) Kaiser die Weltherrschaft, legt danach aber demütig und gottergeben Krone und Zepter im Tempel zu Jerusalem nieder und beschränkt sich auf sein deutsches Königtum.

Im zweiten Teil kommt der Antichrist mit den Figuren der Heuchler und Schmeichler, um Zwietracht zu säen. Der Antichrist verjagt die Ecclesia (Kirche), gewinnt durch Täuschung die Könige und macht Synagoga (für das Judentum) und die endzeitlichen Propheten Enoch und Elias zu Märtyrern. Im Augenblick seines höchsten Triumphs aber wird der Antichrist von Gott selbst (gleichsam als deus ex machina am Spielende) vernichtet. Am Ende der Zeit ist somit der Antichrist mit einem Donnerschlag Gottes besiegt.

Der Stoff dieses in der Literaturgeschichte durchaus einzigartigen Dramas beruht auf einem theologischen lateinischen Werk aus dem 10. Jahrhundert. Selbstständig hat der bis heute anonyme Tegernseer Autor daraus ein lateinisches Drama geformt. Dieses wurde auf einer Simultanbühne aufgeführt. Unter einer Simultanbühne versteht man eine bühnentechnische Anordnung, bei der nach einem feierlichen Einzug alle Personen gleichzeitig auf der Bühne sichtbar sind. Es gibt weder einen Bühnenvorhang noch Auftritte oder Abtritte. Die Schauspieler sitzen bzw. stehen auf Podesten. Konkreter Aufführungsort war der Altarraum der Tegernseer Klosterkirche, wo die Bühnenorte reihum angeordnet waren. Im Kirchenschiff konnte das Publikum das dramatische Geschehen vom Ende der Zeit verfolgen. Selbstverständlich wird in diesem Drama der Stauferzeit der deutsche König bzw. Kaiser als besonders vorbildlich und tapfer gezeigt. Sogar vom berühmten furor theutonicus („deutsche Kampfeswut“) ist die Rede.

Das einzigartige weltgeschichtliche Drama ist in zwei Handschriften überliefert. Diese führen nach Tegernsee und in benediktinischen Kontext. Dass ein scheinbar beschauliches Benediktinerkloster wie Tegernsee zum Entstehungs- und Aufführungsort eines solch schillernden und in seinen politischen Kampfszenen sehr weltlichen Dramas wird, verwundert nicht, wenn man weiß, dass in Tegernsee ungefähr gleichzeitig auch Minnedichtung und Romanliteratur entstand. Die Tegernseer Mönche hatten als Intellektuelle ihrer Zeit nicht nur für den Herzogshof, sondern auch für den Kaiserhof zu „liefern“. Als es in deutschen Landen noch keine Universitäten gab, waren Benediktinermönche, noch dazu in einem der ältesten deutschen Klöster wie Tegernsee, die intellektuelle Speerspitze für die Politik des Hochadels. Diese politische Elite wollte darüber hinaus durch repräsentatives Theater den Machtanspruch demonstrieren. Das Kloster Tegernsee lieferte dafür das „Drehbuch“ und stellte mit seinen Mönchen auch die Schauspieler.

Konkret dürfte der Ludus de Antichristo in der Klosterkirche im liturgischen Jahreskreis während der Adventszeit aufgeführt worden sein. Als Kostüm hat man sich für die Ecclesia (die personifizierte Kirche) etwa liturgische Gewänder, für Könige und Kaiser Rüstungen und Schwerter vorzustellen. Es gab nur männliche Schauspieler. Weibliche Rollen wurden von den Knaben der Klosterschule gesungen.

Insgesamt repräsentiert der Tegernseer Ludus de Antichristo in herausragender Weise das Theaterleben der Stauferzeit.

Ehemalige Klosterkirche - heutige Pfarrkirche St. Quirinus, © Isabelle Munstermann
Ehemalige Klosterkirche - heutige Pfarrkirche St. Quirinus

© Isabelle Munstermann