Reinjan Mulder in Amsterdam, © Ingvild Richardsen

Interview mit Reinjan Mulder über Schwefelwasser

Multitalent zwischen Strafrecht, Literatur und Kunst

Ingvild Richardsen: Reinjan, du operierst in deinem Buch mit Armandos Begriff und
Konzept von der „schuldigen Landschaft“. Dass du von dem niederländischen
Künstler und Schriftsteller Armando in deinem
eigenen Schaffen beeinflusst wurdest, hängt sicher auch damit
zusammen, dass du als Redakteur in der Kunstredaktion der
Zeitschrift NRC Handelsblad eng mit ihm zusammengearbeitet
hast?

Reinjan Mulder: Ja, ich war damals einer seiner Redakteure bei NRC. Von 1980 bis 1983 hatten wir oft Kontakt, bis ich zum Sozial und Culturel Planungs
Buro (SCP) ging. Armando war im Sommer 1980 von der DAAD
eingeladen worden, ein Jahr nach Berlin zu kommen, wo er das Atelier
von Arno Breker erhielt, des bekannten Nazi-Künstlers. Als wir
mit ihm über eine Kolumne sprachen, sagten wir, er könnte frei über
alles schreiben, was er wollte, aber bitte NICHT über den Krieg. Da
hat er geantwortet: Ach, ich schreibe NUR über den Krieg. Wir haben
dann gelacht und gesagt: Naja, das ist natürlich auch gut. Also schrieb
Armando auch für uns weiter über den Krieg.

Als Kind hatte er während der deutschen Besatzung in der Nähe
des Polizeilagers Amersfoort gewohnt und wurde schon früh Augenzeuge
der Einlieferungen und des Abtransports von Gefangenen.
Ohne genau zu wissen, was sich hinter dem Stacheldraht abspielte,
machte er sich so ein Bild von Krieg und Besatzung, von Täter- und
Opferrolle. 1962 hat er dann zusammen mit einem Kollegen beim
Magazin Haagse Post das Buch De SS-ers veröffentlicht, eine Reihe
von Interviews mit ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS in den
Niederlanden. Nur ihre Monologe, ohne beigegebenen Kommentar.
Das hat direkt zu großem Aufsehen und heißen Diskussionen
geführt, weil diese Leute bei uns noch nie befragt worden waren.
Armando sagte, er war neugierig, was und wie solche Männer dachten.

Es ist merkwürdig, dass in Deutschland fast niemand diesen
bedeutenden niederländischen Künstler kennt. Bei uns ist Armando
ein Phänomen. Er war Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Zeichner und
Musiker und in all diesen Kunstbereichen höchst erfolgreich. Seine
Kolumne „Aus Berlin“, die er für uns fünf Jahre lang schrieb, wurde
sogar noch populärer als seine visuellen Werke. Er schrieb über Menschen,
denen er begegnete, und über ihre Erinnerungen, über Ruinen
und Bauwerke, die noch vorhanden waren, und über alles, was
dort geschehen war. Kurz, sachlich und ohne viel persönlichen Kommentar.
Wenn er uns seine neueste Kolumne geschickt hatte, rief er
oft noch an. Ich kann mich an die Gespräche noch gut erinnern.
Wenn ich dann sagte, sein Text wäre gut angekommen und hätte uns
gefallen, berichtete er, was ihm die vorangegangenen Tage in Berlin
noch aufgefallen war: ein fremdes Gebäude, eine alte Frau, die etwas
erzählt hatte. Und dann schwieg er lange.

Kurz bevor er 2018 in Potsdam starb, wo er wieder ein Atelier
hatte, haben wir uns noch einmal in Amsterdam getroffen, Kaffee
getrunken und uns an alte Zeiten erinnert. Ich merkte, der Krieg war
noch immer in seinem Kopf und er konnte ihn noch immer nicht
verstehen.

Tatsächlich hat Armando durch seine Kolumne, auch durch seine
Gemälde, wie kaum ein anderer immens zum gegenseitigen Verständnis
zwischen Deutschland und den Niederlanden beigetragen.
Es gibt eine Dissertation über ihm, von Britta Bendieck, in der sie
zeigt, wie wichtig Armando für die deutsch-niederländische Beziehung
ist. Sie schreibt, wie er damals der ideale Kulturvermittler zwischen
unseren beiden Ländern war.

Ingvild Richardsen: Von einigen Nachkommen Adriaan Stoops, auch von einem
Rezensenten, wird dir eine forcierte Anwendung von Armandos
Konzept der „schuldigen Landschaft“ vorgeworfen – dass du die
Beladenheit von Bad Wiessee übertreibst, insbesondere die von
Haus Jungbrunnen. Macht die Verhaftung von Ernst Röhm, die in
der Nähe von Haus Jungbrunnen stattgefunden hat, diesen Ort
und seine Umgebung wirklich zu einem schuldigen Haus, zu einer
schuldigen Landschaft? Oder die Tatsache, dass Haus Jungbrunnen
von Alois Degano, dem späteren Hitler-Architekten, entworfen
wurde? Muss man nicht eher von „schuldig gemachten Landschaften“
sprechen? Tatsächlich ist es ja der Mensch, der seine
Verbrechen einem Ort, einer Landschaft auflädt?

Reinjan Mulder: Wer Armandos Idee und Konzept einer „schuldigen Landschaft“ bestreitet, begreift nicht, dass dieser Begriff eine Metapher ist, um
damit auszudrücken, was man nur schwer vor Augen führen kann.
Armando war ein Dichter und Künstler und er spielte mit Worten.
Die Spannung entsteht doch erst, wenn man etwas sagt, was auf den
ersten Blick nicht ganz offensichtlich ist, was paradox ist und etwas
Poetisches hat. Der „Kalte Krieg“ war auch nicht kalt, und doch verstehen
wir, was damit gemeint ist.

Natürlich sind die Menschen schuld und nicht die Landschaft,
wenn etwas Schreckliches geschieht, aber wenn die Menschen gestorben
sind, bleibt nur noch die Landschaft, die uns an das erinnert, was
dort geschehen ist. Mit der Landschaft kommen die Geschichten.
In einer seiner Kolumnen für uns hat Armando über einen Aufenthalt
in England geschrieben, in Norfolk, von wo aus während des
Kriegs die englischen Bomber aufstiegen, um nach Deutschland zu
fliegen. Gerade in dieser Kolumne hat er ganz klar definiert, was für
ihn eine schuldige Landschaft ist: „Eine Landschaft, die Geschehen
sah, denn in Landschaften, in der herrlichen Natur, finden oft die
grausigsten Aufführungen statt. Schlachten. Meuchelmorde. Mann
gegen Mann. Bau und Instandhaltung von Lagern. Baracken. Orte
zum Quälen wehrloser Geschöpfe. Die besagte Landschaft hat sich
nie darum gekümmert, ist sogar so schamlos gewesen, einfach weiterzuwachsen.“

Auch wenn ich in Amsterdam durch die Straßen der Stadt gehe,
kommen mir zahlreiche Geschichten über viele dieser Gebäude in
der Kriegszeit in den Sinn. Ich kann dann beschreiben, was ich gerade
sehe, z.B. Häuser, aber auch welche Erinnerungen ich fühle und welche
Geschichten ich über die Gebäude kenne. So entsteht eine Spannung,
zwischen Dingen und Wörtern.
Zitiert nach: Armando: Wärme der Abneigung, 1987, S. 120 – 121.

Ohne zu urteilen und viele Emotionen zu zeigen, hat Armando in
seiner Kolumne solche Geschichten aufgeschrieben. Ähnlich habe
ich versucht, in Schwefelwasser zu beschreiben, was ich 1966 und
2012 in Bad Wiessee sah – ein schönes Dorf, einen See –, was ich später
darüber in Archiven gefunden habe, was mir die Menschen dort
erzählt haben und was ich bei solchen Geschichten fühle.

Ingvild Richardsen: Abgesehen von Armando hat dich in deinem Schaffen auch der
aus Bayern stammende Schriftsteller W.G. Sebald beeinflusst. In
der Zeit, als du Literaturredakteur bei NRC Handelsblad warst,
hast du ihn zuhause in England interviewt, du hast auch später
noch über ihn geschrieben. Was hat dich an ihm fasziniert? Inwiefern
war er für dich und dein Buch ein Vorbild?

Reinjan Mulder: Sebalds Bücher weisen eine ganz eigene literarische Form auf, in denen er Geschichte, Wanderungen, Stimmungen, Begegnungen,
Architektur und Landschaft miteinander verknüpft. Anders als
Armando ist er nicht nur ein registrierender, sondern ein emotionaler,
suchender Autor.

Seinen Namen hörte ich zum ersten Mal, als ich 1990/91 an einem
Seminar über englische Literatur in Cambridge teilnahm. Man sagte
mir, dass es an der Universität Norwich einen deutschen Schriftsteller
gäbe, der von Hans Magnus Enzensberger in seine schöne
Buchreihe Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag aufgenommen
worden sei. Nach Hause zurückgekehrt kaufte ich zwei seiner Bücher:
Schwindel. Gefühle (1990) und Die Ausgewanderten (1992). Beide
waren bei uns im progressiven Van Gennep Verlag erschienen, in
einer Reihe, in der sich große literarische Namen wie György Konrad
und Peter Nadas fanden.

Sebald nahm mich damals nicht sofort ein, aber das änderte sich, als
1995 sein neuestes Buch erschien: Die Ringe des Saturn. Eine englische
Wallfahrt. In ihm ging es um eine Wanderung durch East Anglia
– das ich gut kannte, weil mein Vater dort an der englischen Küste ein
Haus gekauft hatte. Ich war gespannt, was wohl ein Deutscher über
diese Landschaft geschrieben hatte, in der ich so häufig spazieren
gegangen war, und die, wie Armando schon geschrieben hatte, auch
eine schuldige Landschaft war. Harwich, wo meines Vaters Haus stand, 
war im Zweiten Weltkrieg ja ein wichtiger Kriegshafen und in
der Nähe waren Tausende tödliche Bomber stationiert, die jede Nacht
nach Deutschland flogen, in einem Luftkrieg, in dem viele tausend
Engländer und viele hunderttausend Deutsche starben.
Als ich Sebalds Ringe des Saturn las, stellte ich überrascht fest,
dass er diese Gegend in ähnlicher Weise sezierte wie dies Armando
zuvor getan hatte. Sebalds Buch beeindruckte mich ebenso sehr wie
Armando: mit der Schilderung seiner Wanderung, mit seinem Interesse
an der Geschichte des hier Vorgefallenen und den Spuren, die
das Geschehene in dieser Landschaft hinterlassen hatte. Ich beschloss,
ein Interview mit ihm zu machen, sobald ich wieder nach England
fahren würde.

Sehr bald empfing mich sehr freundlich in seinem Haus in Poringland
bei Norwich, ein ehemaliges Pastorenhaus, und erzähle mir,
dass die eine große Wanderung, die er beschrieb, tatsächlich sehr
viele Wanderungen waren, die er während eines ganzen Jahres unternommen
hatte.

Nach zwei Stunden Interview und Gespräch sagte er, er sei leider
sehr müde und deprimiert, ja, unfähig weiterzusprechen. Er machte
einen langen Spaziergang mit seinem Hund, während seine Frau
mich zurück nach Norwich fuhr. Sie erzählte, dass ihr Mann oft
depressiv war. Das Schreiben fiel ihm schwer.
Später, im Januar 2002, war ich völlig schockiert, als ich erfuhr,
dass er mit 58 Jahre am 15. Dezember 2001 bei einem Autounfall verunglückt
war. 2012 und 2019 bin ich dann wieder zurückgegangen
nach Norfolk, um mehr über ihn und seine Landschaft zu schreiben
und um sein Grab in Poringland zu besuchen.

Ähnlich wie Armando und Sebald habe auch ich in Schwefelwasser
einen halb rekonstruierten Spaziergang von sieben Tagen durch
eine geschichtlich belastete Landschaft unternommen: am Ufer des
Tegernsees. Dort habe ich meine eigene Vergangenheit und die von
Bad Wiessee beschrieben und unterwegs notiert, wie es an diesen
Orten zu verschiedenen Zeiten war, was Menschen mir darüber
erzählten und welche Erinnerungen sie noch hatten. Und ähnlich wie
Sebald in seiner „englischen Wallfahrt“ nicht wusste, wie man mit
den schrecklichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts umgehen sollte,
so weiß auch ich das noch immer nicht.

Ingvild Richardsen: In meinem Nachwort habe ich dein Buch als Egodokument bezeichnet. Wie siehst du das selbst?

Reinjan Mulder: Armando und Sebald brachten beide ein Genre auf, das zwischen Literatur im eigentlichen Sinne und Sachbüchern liegt. Auch ich tue
das. Eigentlich hatte ich zuerst vor, einen Roman über Bad Wiessee
zu schreiben, über das Erinnern und die Vergänglichkeit der Zeit. Ich
wusste auch nicht, ob ich noch viel Faktisches finden könnte. Es war
dann aber tatsächlich der Aufenthalt in den Archiven, der mich zu
dem Entschluss führte, doch besser eine Art literarisches Sachbuch
zu schreiben. Es gab noch so viele interessante Zeugnisse, die ich
zitieren wollte.

Von Anfang an ging es mir aber um das Thema der Erinnerung,
um das Vergehen der Zeit und um den Wechsel von Perspektiven –
dazu kamen das Verhältnis zwischen Landschaft und realen Menschen,
das architektonische Erbe, die Erinnerungskultur.

Als ich dann endlich noch Stoops Urenkelin Henriette van Voorst
Vader traf, die mir viel aus ihrer eigenen Erinnerung erzählen konnte,
überlegte ich, wie ich auch ihre Zeit in Haus Jungbrunnen, ihre Perspektive,
berücksichtigen könne und auf welche Weise ich die
deutsch-niederländischen Beziehungen so behandeln könne, wie sie
noch nie beschrieben worden waren. Tatsächlich fanden wir beide
den Wechsel der Perspektiven nach siebzig bzw. fünfzig Jahren interessant.
Wie ändert sich der eigene Blick im Laufe der Zeit und unter
verschiedenen Umständen? Wie ist der Blick in der Jugend? Wie ist
er im Alter? Was ändert sich und warum ändert es sich?

Ja, mein Buch kann man ein Egodokument nennen, aber ich bin
nicht der einzige Zeuge im Buch. Es gibt sehr viel „ich“ in jedem
Kapitel, aber ich zeige auch andere Perspektiven. Ich zitiere viele
Schriften anderer Personen und beschreibe meine persönlichen
Gefühle und Erinnerungen neben denen von anderen.
Wichtig für mich war, in einem Egodokument wie Schwefelwasser
alles so korrekt wie möglich zu beschreiben. Ich habe also auch
immer versucht, meine Gefühle und die meiner Eltern, meine Erinnerungen
und die meiner Freunde und Bekannten so ehrlich wie möglich zu schildern, 
so, wie wir sie jetzt, aktuell erinnern. Und ich
lasse mich gerne korrigieren, wenn es Fakten im Buch gibt, die nicht
stimmig sein sollten.

Ingvild Richardsen: Was siehst du als Kern deines Buchs an? Nachkommen von Adriaan
Stoop werfen dir vor, Kern deiner Geschichte sei nur das Kurbad
in der Nazi-Zeit, zusammen mit der Haltung der Familie
gegenüber dem Nationalsozialismus.

Reinjan Mulder: Das war nicht meine Absicht. Von Anfang an interessierte mich die gesamte Geschichte und Entwicklung des Jodschwefelbads, alles, was damit verbunden war: die Bohrungen nach Erdöl, die Figur von
Adriaan Stoop, das Baden, die bayerische Architektur, die Familie
meiner Klassenfreundin Reinet van Haeften, die Unterschiede zwischen
ihrer und meiner Familie und dazu meine eigene Entwicklung.
Natürlich gehört dazu in Deutschland auch die Kriegszeit. Aber
nicht, weil ich Vorwürfe formulieren wollte. Man kann nicht über
Geschehnisse in Deutschland im 20. Jahrhundert schreiben und den
Nationalsozialismus und die Kriegszeit außer Acht lassen, gerade
wenn diese Zeit für den beschriebenen Gegenstand eine große Rolle
gespielt hat.

Als ich Henriette van Voorst Vader das erste Mal traf und ihr später
das erste Kapitel schickte, merkte ich, dass sie die anti-deutsche
Haltung meines Vaters sehr interessant fand. Ja, so war das damals.
Sie fing dann an, von ihrem kollaborierenden Vater zu erzählen und
von ihrem Mann, der noch immer anti-deutsch eingestellt war. Ohne
Scham und Vorwürfe. Das ist doch interessant, wie so etwas in einer
Familie möglich ist.

Ohne Henriettes Erzählungen hätte ich vieles in meinem Buch
nicht so geschrieben, wie ich dies getan habe. Darum war ich überrascht,
dass andere Nachkommen von Adriaan Stoop so erschrocken
waren. Sie kannten die Geschichten doch auch. Schon 2018, bei einer
Familienreunion, hatte ich ihnen schon davon erzählt, danach hatten
sie mir noch neue Anekdoten geliefert.
Natürlich hat der alte Adriaan Stoop selbst keine aktive Rolle in
der Nazi-Zeit gespielt, weil er ja bereits 1935 starb. Aber wenn wir
uns jetzt in den Niederlanden mit dieser Zeit beschäftigen, stellt sich
immer wieder die Frage: Wie war das alles möglich? Rückblickend
war dann das, was dem Krieg ideologisch vorausgegangen war, die
Voraussetzung. Dies ist der Grund, warum ich in meinem Buch auch
über die politischen Aktivitäten von André Driessen und der Familie
Stoop in den 1930er-Jahren geschrieben habe, über ihre Haltung und
ihre damaligen Kontakte zu bestimmten konservativen Kreisen in
Bad Wiessee und Berlin.

Wenn du mich heute, im Jahr 2020, nach der Schuld und Verantwortlichkeit
der Stoops fragst, denke ich, dass es im Nachhinein der
größte Fehler von Adriaan Stoop und seinem Baddirektor André
Driessen war, dass sie in Bad Wiessee 1935 die Nazi-Landschule mit
möglich gemacht haben. Wenn man dazu beiträgt, dass so eine Institution
gebaut wird, trägt man mehr Schuld als die jungen Schüler, die
dort zwischen 1935 und 1945 nach der NS-Ideologie erzogen wurden.
Und Stoop wusste damals genau, was er tat, weil er die vertraulichen
„Führerbriefe“ aus Berlin geschickt bekam. Außerdem war
schon 1934 Bürgermeister Sanktjohanser bei ihm gewesen und hatte
ihm erzählt, er befürchte, bald in einem der Konzentrationslager
interniert zu werden. Adriaan Stoop war nicht naiv.
Der Fehler Driessens in dieser Zeit war, dass er immer bereit war,
Geld zu spenden: für das NS-Fliegerkorps, für die Winterhilfe, die
Hitler-Spende – auch wenn das damals vielleicht normal war, im
Deutschland der 1930er-Jahre.

Ingvild Richardsen: Hinsichtlich der Geschichte von Bad Wiessee, von Haus Jungbrunnen,
Adriaan Stoop und der Zeit des Nationalsozialismus
stellst du in deinem Buch spezifische Gedankenexperimente an.
Wenn Adriaan Stoop 1910 nicht das Jodschwefelwasser gefunden
hätte, schreibst du, wäre Bad Wiessee nicht der bevorzugte Kurort
der Nazis geworden und die „Nacht der langen Messer“ hätte
nicht stattgefunden, wodurch die Weltgeschichte eine ganz andere
Wendung hätte nehmen können. Die Urenkelin Stoops Michaja
Langelaan wirft dir hier Spekulation und eine skurrile „What
if“-Logik vor. Meinst du solche Spekulationen ernst? Muss man
dann nicht überall bei Adam und Eva als Ursache anfangen?

Reinjan Mulder: Das alles ist ein Gedankenspiel. Das schreibe ich selbst auch. Es ist Übertreibung, Ironie, eine Kausalität ad absurdum. Das sieht jeder.
Die „What if“-Frage ist ein Spiel, das Schriftsteller schon lange spielen.
Es sind Gedanken, die man sich immer wieder macht, wenn man
sich die oft absurden geschichtlichen Zusammenhänge vor Augen
führt.

Aus der Meteorologie kennen wir den „Schmetterlingseffekt“: die
Idee, dass die minimale Bewegung eines Schmetterlings auf der anderen
Seite der Welt eine Katastrophe verursachen kann. Auch sehr
kleine Ursachen können anderswo große Folgen haben. Aber dass
das so ist, dafür verurteilt man den Schmetterling natürlich nicht.
Es ist die Absurdität geschichtlicher Verläufe, auf die ich auch hier
hinweisen wollte, die Rolle des Zufalls, die Multikausalität der Dinge.
Als Jurist habe ich mich schon früh mit Kausalitäten beschäftigt und
ich weiß, dass man im Recht nur Schuld an den Dingen oder Geschehnissen
trägt, deren fatalen Verlauf man tatsächlich hätte absehen und
anders angehen können. Es gibt sehr komplizierte Theorien darüber,
was man einem Menschen vorwerfen kann und was nicht.
Aber hier geht es nicht um das Recht. Es gehört zu unserer Kultur,
uns immer mit der Rolle des Zufalls, mit absurden Kausalitäten zu
beschäftigen. Was wäre gewesen, wenn ich 1966 nicht nach Deutschland
gefahren wäre? So frage ich auch: Was wäre gewesen, wenn
Röhm 1935 nicht getötet worden wäre? Was, wenn der Architekt
Degano Hitler nicht am Tegernsee getroffen hätte? Das sind interessante
und instruktive Gedankenexperimente, die z.B. auch ein
Schriftsteller wie Philip Roth in seinem schönen Buch The plot against
America unternommen hat: Was wäre gewesen, wenn Amerika im
Zweiten Weltkrieg Hitler unterstützt hätte?

Ingvild Richardsen: Ich möchte noch auf das Ausradieren der Erinnerungen an die
Niederländer in Bad Wiessee zu sprechen kommen. Adriaan
Stoop ist hier fast vergessen, was du am Ende deines Buchs thematisiert.
Du beschreibst bis zum letzten Kapitel die Lage in Bad
Wiessee, wie du sie zwischen 2012 und 2016 vorgefunden hast,
unwissend, ob Haus Jungbrunnen noch existierte und ob sich das
Bad weiterentwickelt hatte. Erst ganz am Ende, im Jahr 2017/18
angekommen, sagst du kurz – als Post Scriptum – etwas darüber,
was in Bad Wiessee alles verschwunden ist. Du thematisierst die
Erinnerungskultur, schreibst über das Vergessensein der Niederländer
und den Abriss aller Gebäude, die an sie erinnert haben.
Wie erklärst du dir dieses Auslöschen der Erinnerungen an die
Niederländer in Bad Wiessee? Warum ist Stoop jetzt so unbekannt?

Reinjan Mulder: Tatsächlich ist Adriaan Stoop heute fast überall unbekannt, nicht nur in Bayern, sondern in ganz Deutschland und auch in den Niederlanden.
Das ist seltsam, denn er war im wahrsten Sinne des Wortes ein
genialer Schatzgräber. Stoop war der Mann, der Deutschlands
berühmteste Jodschwefelquelle entdeckt hat und dem es in Bad Wiessee
gelungen ist, für hundert Jahre ein niederländisches Imperium
aufzubauen. Außerdem war er einer der Mitgründer von Shell. Als
1995 in den Niederlanden die erste Biografie über Stoop erschien,
war er schon fast vergessen, aber noch in den 1920er- und 1930er-Jahren
hat er in den Niederlanden zu den Helden des kolonialen Reichs
gehört. Henriette van Voorst Vader, die Biografin, hat mir erzählt,
dass es 1995 viele Leute des Shell-Unternehmens waren, die das Buch
gekauft oder als Geschenk bekommen haben.

Wichtig ist, dass das Kurbad in Bad Wiessee, in Bayern, tatsächlich
nichts anderes als eine Art niederländische Kolonie gewesen ist,
die jetzt „dekolonisiert“ wird, mit allem, was dazugehört. Es gibt ja
interessante Parallelen mit der viel umfangreicheren Dekolonisation,
als Niederländisch-Indien sich zu Indonesien entwickelte. Immer
noch gibt es Streit um historische Ereignisse zur Zeit der Kolonisation,
meist wird Vergangenes bewusst dem Vergessen anheimgegeben.
Adriaan Stoop und viele aus seiner Familie sind damals steinreich
geworden in Niederländisch-Indien, weil er dort Öl gefunden hatte,
die ganze Familie verdiente, dank des späteren Shell-Unternehmens,
damit viel Geld. Und als sie später in Deutschland Jodschwefelwasser
fanden, geschah dasselbe.

Natürlich haben die Niederländer auch viel Gutes getan, in Niederländisch-
Indien und in Deutschland am Tegernsee. Sie haben ein
halbes Dorf gebaut, für Arbeit und Reichtum gesorgt, sie haben das
Land entwickelt – aber dennoch wollten und wollen die Ureinwohner
das alles in beiden Fällen irgendwann vergessen. In Niederländisch-
Indien wurden die Niederländer zwischen 1945 und 1949 mit
Gewalt rausgeschmissen, in Bad Wiessee etwas freundlicher zwischen
2000 und 2010. Der Name der früheren Hauptstadt von Niederländisch-
Indien, „Batavia“, wurde wieder zurück zu „Djakarta“
verändert und man denkt dort heute nicht mehr allzu gern zurück an
die koloniale Zeit. Und genauso, wie zuvor in der jungen Republik
Indonesien die Geschichte des Landes aufs Neue geschrieben wurde,
passiert das jetzt in Bayern, in Bad Wiessee. So etwas gibt immer
Streit.

Es gibt auch Unterschiede zwischen der einstigen niederländischen
Kolonie in Indonesien und Bayern: Mit der politischen Entwicklung
im Bayern des 20. Jahrhundert hatten die Niederländer
weniger Umstände und Schwierigkeiten als sie dies zuvor in Niederländisch-
Indien hatten. Doch in beiden Fällen gab es eine meist gute
Zusammenarbeit mit den ortsansässigen Reichen und Machthabern.
Dies bedauert – oder vergisst – man jetzt vielleicht ein bisschen.
Stoop und Driessen wussten, wie sie in den 1930er- und 1960er-Jahren
mit ihren Geschäften Profit machen konnten, so wie die Niederländer
dies im 18. und 19. Jahrhundert schon in Indonesien gewusst
hatten: 1935 war das bis dahin beste Jahr für das Jodschwefelbad. Mit
einer neuen, durch die Nationalsozialisten geförderten Wandelhalle,
einer neuen von Himmler eröffneten Schule für die Wiesseer und
vielen tausend „Kraft durch Freude“-Besuchern für Stoops Bad.
Auch in den 1960er- bis 1980er-Jahren boomte das Bad wieder.
Jetzt ist das definitiv vorbei. In Bad Wiessee hat man heute tatsächlich
alle Gebäude der Niederländer abgerissen: die große Direktorenwohnung
von André Driessen, das Landhaus Haus Jungbrunnen
und auch das monumentale Kurgebäude. Nur die zwei kleinen
ältesten Gebäude mit den Pumpen sind jetzt noch da. Sie sind aus
Holz gebaut, haben auch etwas Ländliches. Es ist gut, dass wenigstens
sie erhalten sind, weil das der Ursprung des Badens in Bad Wiessee
ist. Ansonsten hat man nur die rein deutschen Bauten von Bruno
Biehler und anderen behalten.

Bis heute erhalten sind noch die niederländischen Namen dreier
Straßen: Die Adrian-Stoop-Straße, Driessenstraße und Wilhelminastraße.
Aber wie lange noch? Wo gibt es jetzt noch ein Bild von
Adriaan Stoop in Bad Wiessee zu sehen?
In meinem Buch schreibe ich anfangs darüber, wie wir Niederländer
1966 noch immer als die „Herren von Haus Jungbrunnen“ gesehen
wurden. Und ja, das gab es einmal tatsächlich: niederländische
Herren, die in Bayern ein halbes Dorf besaßen, mit viel Personal und,
ja, auch einem eigenen Orchester.
 

Impressionen

Reinjan Mulder in Amsterdam, © Ingvild Richardsen
Reinjan Mulder

© Ingvild Richardsen

Ankunft Haus Jungbrunnen_1966, © Privatarchiv | Reinjan Mulder
Ankunft Haus Jungbrunnen_1966

© Privatarchiv | Reinjan Mulder

Haus Jungbrunnen, © Reinjan Mulder
Haus Jungbrunnen

© Reinjan Mulder

Zeichnung Jodstube Bad Wiessee, © Privatarchiv | Reinjan Mulder
Zeichnung Jodstube Bad Wiessee

© Privatarchiv | Reinjan Mulder